HANS-PETER SCHNEIDER
Das föderale System Deutschlands wird vom Prinzip der strikten Trennung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern geprägt. Jede Ebene ist für ihre Entscheidungen verantwortlich, selbst wenn ein Bundesgesetz eine Aufgabe an die Länderparlamente delegiert. Um diesem Prinzip Geltung zu verschaffen, wurden gemeinsame Verwaltung und Mischfinanzierung vom Bundesverfassungsgericht verboten. Das heißt aber nicht, dass die deutsche Föderation auf zwei völlig unterschiedlichen und separaten Säulen – der Bundes- und der Länderhoheit – ruhen würde, die keine Verbindung miteinander haben. Der Bundesregierung fallen in erster Linie gesetzgeberische Aufgaben zu, während das Schwergewicht der Verwaltungstätigkeiten bei den Ländern liegt. Es ist sogar so, dass die Länder neben ihren eigenen Gesetzen auch einen großen Teil des Bundesrechts vollziehen.
Das Grundgesetz, Deutschlands Verfassung, unterscheidet drei Arten föderaler Zuständigkeiten: ausschließliche, konkurrierende und Rahmengesetzgebung. Die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes lesen sich ähnlich wie die Liste der Befugnisse des Kongresses in
Hans-Peter Schneider
den USA: auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung, Staatsangehörigkeit, Güter- und Personenverkehr, Postwesen und Telekommunikation sowie Bundessteuern. Die Liste der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen ist sehr umfangreich. Sie umfasst wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten wie die Sozialhilfe, die Sozialversicherung, die Arbeitsgesetze, die Regulierung der Wirtschaft, die Landwirtschaft und den Umweltschutz. Die Rahmengesetze schließlich legen nur grundlegende Prinzipien fest und überlassen deren Umsetzung den einzelnen Ländern. Die Liste möglicher Bereiche, die der Rahmengesetzgebung unterliegen, ist relativ kurz, sie enthält jedoch auch viele ausdrücklich den Ländern übertragene Bereiche: das Hochschulwesen, die Presse und die Filmindustrie, die Bodenreform und die Raumordnung. Nach den Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichts ist es wesentlich, dass die Rahmengesetzgebung den Ländern bei der Umsetzung der Bestimmungen hinreichend viel Spielraum lässt.
Einer der überraschendsten Aspekte des deutschen Verwaltungssystems ist, dass die meisten Bundesgesetze von den Ländern ausgeführt werden. Solange das Grundgesetz nicht etwas anderes bestimmt, müssen die Länder die Ausführung der Bundesgesetze prinzipiell als ihre eigene Angelegenheit betrachten. Das Umgekehrte ist jedoch streng untersagt: Dem Bund ist es nicht gestattet, ein Landesgesetz auszuführen. Damit sind die direkten Verwaltungskompetenzen des Bundes sehr begrenzt und werden nur in jenen Bereichen vorgesehen, in denen eine einheitliche Verwaltung für essentiell gehalten wird.
Die Bundesregierung verfügt dennoch über Mittel, die Länder bei der Ausführung von Bundesgesetzen zu beeinflussen. Sie kann Vorschriften für die Behörden der Länder erlassen, die für die Vollziehung der Bundesgesetze zuständig sind. Sie kann zudem den Spielraum der Länder durch den Erlass von Ver waltungsvorschriften einschränken oder Verordnungen in Kraft setzen, die auch für Dritte verpflichtend sind. Um sicherzustellen, dass die Länder die Bundesgesetze tatsächlich ausführen, kann die Bundesregierung sie beaufsichtigen und dazu Beobachter in die Behörden der Länder abordnen. Und in einer Zwischenform der Verwaltung ist es schließlich auch möglich, dass die Länder, gemäß den entsprechenden bindenden Bundesvorschriften, Bundesgesetze im Auftrag des Bundes ausführen.
Tatsächlich ist der politische Einflussbereich der Länder in den letzten fünfzig Jahren erheblich eingeschränkt worden, und das hohe Maß an Verflechtung in der Gesetzgebung hat die Transparenz und die öffentliche Kontrolle des Entscheidungsprozesses verringert. Diese Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat tatsächlich zu einer Konzentration der Befugnisse auf beiden Regierungsebenen geführt: bei der Bundesregierung auf der einen Seite und bei der Gesamtheit der Bundesländer auf der anderen Seite, wobei die Befugnisse und die Finanzen etwa gleichmäßig verteilt sind. Diese beiden Machtzentren – die eine schädliche Wirkung auf die politische
Deutschland
Verantwortlichkeit haben – sind jedoch so eng miteinander verbunden, dass politisch kaum etwas bewegt werden kann. Die Bundesregierung und die Länder stimmen in der Diagnose überein, nicht aber in der Therapie.
Diese Immobilität kann in die 80er und 90er Jahre zurückverfolgt werden, als der Prozess der politischen Entscheidungsfindung in Deutschland zunehmend schwerfälliger wurde. Zwar wuchs das gesellschaftliche Bewusstsein, dass grundlegende Reformen
notwendig waren, in der politischen Praxis traf dies jedoch auf wenig Interesse. Der Gesetzgebungsprozess wurde aufgrund unterschiedlicher Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat blockiert. Während die Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes kontinuierlich gewachsen sind, besitzen die Länder immer weniger Gesetzge-
bungsbefugnisse und sind praktisch nur noch für Verwaltungsaufgaben und die Ausführung der Gesetze verantwortlich. Durch die deutsche Wiedervereinigung und den europäischen Integrationsprozess haben sich in der Zwischenzeit die Rahmenbedingungen für die Verteilung der Verantwortungsbereiche notwendiger weise grundlegend verändert. Das gegenwärtige Arrangement droht die politische Handlungsfähigkeit langfristig zu schwächen.
Der Prozess der europäischen Integration und die wirtschaftliche Globalisierung haben in den föderalen Staaten auch die Bedingungen für das Politikmanagement grundlegend verändert. Diese Prozesse deuten darauf hin, dass es notwendig ist, die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder zu stärken. Die Integration der internationalen Märkte verlangt von den Unternehmen in Ländern mit hohen Produktionskosten eine immer stärkere Spezialisierung. Als Konsequenz wird die sektorale und regionale Differenzierung im Standortwettbewerb immer wichtiger. In Ländern wie Deutschland führt dies zu einer wachsenden Bedeutung der Länder als wirtschaftspolitische Akteure. Diese sich wandelnden Bedingungen für den deutschen Föderalismus zeigen deutlich, dass eine Überprüfung der Verfassung ein drängendes politisches Thema geworden ist. Zentral ist die Frage nach der Verteilung und Entflechtung der Zuständigkeiten des Bundes und der Länder sowie eine Reform der Finanzverfassung.
Bei den "versteinerten" föderalen Strukturen der Verfassung ist es kaum möglich, flexibel auf moderne gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Die Marktkräfte und ihre Verteilungssysteme verlangen zwar eine erhöhte Reaktionsfähigkeit des politischen Systems, die verfassungsrechtliche Realität (aufgrund der gemeinschaftlichen Aufgaben und Steuern), das integrierte System der Steuerumverteilung (der Finanzausgleich) und die Tatsache, dass für immer mehr Gesetze die Zustimmung des Bundesrates notwendig ist, haben jedoch das politische System Deutschlands noch weniger flexibel werden lassen.